Vorgeschichte
Es ist dunkel und kalt. Vermummte Gestalten schleichen fast lautlos durch die Nacht. Aber was führen sie bei sich? Einige schleppen große Drahtkäfige, andere kleinere Käfige. Einer hat die Arme voll Decken und die letzte Gestalt schleppt eine große Tasche.
Sie bemühen sich, so leise wie möglich zu sein. Nur ein leichtes metallisches Klappern ist ab und zu zu hören. Zielstrebig bewegen sie sich in Richtung Futterstelle. Nicht ahnend, dass sie schon lange von vielen Augenpaaren beobachtet werden. Ängstlichen Augen, aber auch sehr hungrigen Augen.
Die Menschen mit den großen Drahtkäfigen stellen diese auf. Aus der Tasche werden passende Näpfe und gut riechendes Futter geholt. In jeden Napf kommt nur ein kleiner Löffel Futter. Dann stellen sie die Näpfe in den Käfig, legen noch eine Decke an der Stelle über den Käfig, wo sich das Futter befindet und verschwinden aus dem Blickfeld. Dahin, wo auch schon die anderen mit den kleineren Käfigen warten. Ein offensichtlich eingespieltes Team sind sie, denn nicht ein Wort kam über ihre Lippen.
Im Gebüsch kreuzen sich fragende Augen. Angst lodert in ihnen, aber der Hunger ist größer. Die ersten Jammergestalten halten ihre Nasen in die Luft. Es riecht verführerisch. Das ist ein ganz besonders gutes Futter. Schon können sich die ersten nicht mehr zurückhalten und schleichen geduckt zu den Käfigen. Dort ist das Futter drin. Die Futterstelle selber ist leer. Ein-, zweimal kreisen sie um den Käfig. Wegen der Decke kommen sie von außen nicht ans Futter. Der Hunger bohrt in den Därmen. Vorsichtig wird die erste Pfote in den Käfig gesetzt. Nichts passiert. Die zweite Pfote – ängstliches Abwarten. Die dritte Pfote. Auch an den anderen Käfigen das gleiche Spiel. Nun werden sie mutig, das Futter duftet verführerisch. Schnell Richtung Futter und fast zeitgleich geht es „sssssst“ „klack“. Die Fallen sind geschlossen.
Während zwei ungerührt fressen, schieben die anderen beiden Panik. Hurtig kommen die Menschen und ziehen die Decken komplett über die Fallen. Die panischen Tiere werden ruhiger.
Weiterhin beobachten viele Katzenaugen das Treiben. Andere Menschen mit den kleineren Körben kommen, stellen diese direkt an die Fallen und decken sie ab. Dann öffnen sie Falle und Korb und der andere Mensch entfernt die Decke von der Falle. Sofort verschwinden die Katzen aus der Falle in den geschützten Umsetzkorb. Die Menschen nehmen die Körbe mit den ängstlichen Katzen und gehen den Weg, den sie gekommen waren, zurück.
Viele Male erklingt „sssssst“ und „klack“ – dann endlich werden die Näpfe der Futterstelle gefüllt und die Menschen verschwinden wieder.
Noch an vielen Abenden wird das Schauspiel wiederholt. Bereits am übernächsten Abend kehren die meisten Katzen des ersten Abends in ihr gewohntes Revier zurück. Nur kranke oder zähmbare Katzen bleiben in der Obhut der Menschen.
Kranke aber verwilderte Katzen kommen nach ihrer Genesung wieder hierher zurück.
Ein "besseres Leben"?
Meist sind wir eine lustige Bande. Manchmal nur zu zweit, oft viel mehr, aber eigentlich nie allein.
Wer wir sind? Natürlich Katzen! Von hier geboren bis irgendwann krank oder verletzt eingefangen. Von wild geboren, ohne Kontakt zum Menschen aufgewachsen, über nicht kastriert und deshalb schon lange auf Wanderschaft, bis hin zu irgendwann ausgesetzt und deshalb vom Menschen enttäuscht.
Was wir alle gemeinsam haben? Wir sind auf dem Streunerhof gelandet.
Hier kamen wir erst einmal in einen kleinen Raum, mußten Tabletten essen oder Paste, wurden angesprüht oder bekamen eine eklige Flüssigkeit in den Nacken. Und immer wieder kommt der Zweibeiner rein. Manchmal nur, um zu reden. Dreimal am Tag, um leckeres Fresschen zu bringen, und mindestens zweimal, um in den komischen Kisten, in die wir unsere Geschäfte verrichten, rumzuwühlen.
Nicht alle von uns kennen oder mögen die Zweibeiner. Aber fauchen und knurren kann die nicht beeindrucken. Wenn wir uns in Höhlen oder Körben verstecken, dann schauen sie nur aus Entfernung rein. Gefährlich ist es, wenn sie und im geöffneten Fenster erwischen. Da ist ein Gitter, durch das wir nicht durchkönnen. Da haben wir kaum Fluchtmöglichkeiten. Aber diese Zweibeiner bedrängen uns nicht. Ab und zu halten sie uns die flache Hand hin und die mutigen unter uns schnuppern daran. Und siehe da, es riecht nicht schlimm nach Zweibeinern sondern höchst interessant nach anderen Katzen. Scheinbar glücklichen Katzen, die wohl auch bei den Zweibeinern leben. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass sie uns deswegen anfassen dürfen.
Meist haben wir ziemlichen Durchfall, der aber ein paar Tage, nachdem wir Tabletten, Paste oder Flüssigkeit in den Nacken bekamen, weggeht. Dann kommt der nächste Stress für uns. Die Zweibeiner bugsieren uns, ob wir wollen oder nicht, in eine Box. Was soll denn das schon wieder? Die Türe geht auf und noch eine Türe und der Geruch der anderen Katzen ist extrem stark in unseren Nasen. Durch das Gitter der Box können wir auch welche sehen. Sie machen einen friedlichen Eindruck, aber wir fühlen uns in der Enge des Transportkorbes nicht wohl. Einige von uns fauchen gleich mal in Richtung der anderen Katzen. Die interessiert das nicht, sie drehen sich einfach um und gehen ihrer Wege. Nach einem kurzen, schaukelnden Weg öffnet sich wieder eine Tür. Auch in diesem Raum riecht es nach Katzen. Aber nach solchen, wie wir es sind.
Unsicherheit, Angst, Zufriedenheit und Glück vermischen sich. Was sollen wir davon halten? Auf alle Fälle wohnen wir jetzt in einem großen Zimmer. Kratzbäume, Höhlen, Kuschelecken, und zwei große Fenster. Und ein Schrank, auf den wir dürfen! Auch hier kommen die Zweibeiner öfter vorbei, reden mit uns und schwingen immer wieder mit so einem komischen Ding rum. Diejenigen von uns, die schon länger hier sind, versuchen die Dinger zu fangen und es macht ihnen wohl Spaß. Na, beim nächsten Mal werden wir auch mitspielen. Und ein paar gehen zu den Zweibeinern hin und lassen sich anfassen. Sie schnurren dabei sogar. Ist das wirklich so toll? Na, werden wir auf jeden Fall auch irgendwann ausprobieren.
Die Zeit vergeht, wir waren teilweise dreimal in der blöden Box an einem Ort, wo es komisch riecht. Dort wurde uns ins Mäulchen und die Augen geschaut, fremde Hände tatschten an uns rum und ein komisches, kleines, rundes Teil wurde an uns gepresst. Einige von uns gingen morgens hungrig aber fit dorthin und kamen abends ganz fertig wieder. Sie stanken dann fürchterlich nach diesem Ort. Am nächsten Tag waren sie wieder fit.
Wir haben uns gut an die Zweibeiner und das Leben hier gewöhnt. Keiner tut uns etwas, alle sind lieb zu uns. Und mit den Katzenkumpeln ist auch prima zusammen leben.
Es passieren Dinge, die wir nicht verstehen. Ab und zu kommt ein Zweibeiner mit der Box und sagt zu einem oder zweien von uns: „Jetzt geht es in ein besseres Leben“.
Aber was ist ein besseres Leben? Es geht uns doch so gut wie nie zuvor. Wir sind gesund, verspüren keinen Drang mehr, bekommen gutes Futter und Ansprache. Das Leben ist schön, es könnte nicht besser sein. Wir kommen von Futterstellen, wurden meist mit der Falle eingefangen. Mußten ums tägliche Überleben kämpfen. Flöhe, Würmer und Hunger waren unsere ständigen Begleiter. Schon die Kleinsten hatten Hungerbäuche, die Mütter sind ausgezehrt, ohne Kraft. Die Kater ruhelos und unterernährt. Viele von uns waren krank – ohne Hoffnung auf Besserung oder gar Heilung. Aber wir waren stolz, zu stolz. Zu oft wurden wir von Menschen verjagt, getreten, mit Steinen beworfen. Wurden unsere Babys, wenn sie von Zweibeinern gefunden wurden, grausam getötet.
Jetzt geht es uns gut, wir dürfen Katzen sein. Was meint der Zweibeiner mit besserem Leben? Ist unsere Zeit auf Erden vorbei? Nein, das kann nicht sein. Die jüngsten sind doch noch Kinder und selbst die älteren haben erst zwei bis drei Sommer erlebt. Und nochmal nein. Die Zweibeiner hier sind viel zu lieb, die würden uns nichts Schlimmes antun.
Aber wir haben Angst, wenn der Zweibeiner wieder mit der Box kommt und sagt, es geht in ein schöneres Leben
. Angst vor dem Unbekannten. Oft kommen neue Katzen zu uns wenn einige „ins bessere Leben“ gingen. Manche von uns sind nur kurze Zeit da. Die, die eine andere Fellfärbung haben. Und die jungen. Wir älteren, obwohl wir auch noch nicht alt sind, die schwarzen und die Tiger, wir sind länger hier.
Weil es so friedlich ist und die Zweibeiner nett sind, lassen wir uns auch auf sie ein. Die tägliche Spielzeit macht Spaß und wir genießen auch unsere Streicheleinheiten.
Neuzugänge werden erst kritisch gemustert, in ihre Schranken gewiesen und dann in die Gruppe aufgenommen. Sie lernen durch uns „Alte“, dass Katz durchaus mit den Menschen leben kann.
Eines Tages aber kam ein schwarzer Kater, der nicht mehr nach Kater roch. War das ein arroganter, aufgeblasener Typ. Der Zweibeiner bracht ihn mit den Worten: „Seid lieb zu ihm, er ist ein Rückläufer“. Damit konnten wir nichts anfangen.
Der überhebliche Schnösel führte sich auf, als ob er der Herr der Welt sei. Das haben wir gleich mal aus ihm rausgeprügelt. Als wir fertig mit ihm waren, lag er kleinlaut in einer Kratzbaumhöhle.
Später fing er eine Erzählung an.
Mohrle wurde hier im Raum von einer wilden Katze geboren und wuchs hier unbeschwert mit seinen Geschwistern und anderen Katzenkindern auf. Den ersten Sommer seines Lebens verbrachte er in diesem Raum. Er kennt unsere Gefühle und Ängste vor dem „besseren Leben“. Auch für ihn hieß es eines Tages, es geht in ein „besseres Leben“.
Er wurde in die Box gesetzt und lange mußte er in dem lauten Ungeheuer mit dem Zweibeiner ausharren. Irgendwann schwieg das Ungeheuer und es lag ein schaukelnder Weg vor ihm. Lauter fremde Geräusche und Gerüche irritierten ihn. Am liebsten hätte er seine Angst laut heraus geheult. Aber er traute sich nicht
Wir erschauderten, während wir ihm gebannt lauschten. Das soll ein „besseres Leben“ sein?
Mohrle fuhr in seinen Schilderungen fort.
Irgendwann wurde eine Türe geöffnet und eine fremde Stimme, die sehr aufgeregt klang, ertönte. Endlich stand auch die Box am Boden und das Gitter wurde geöffnet. Mohrle durfte raus und sich bewegen. Als erstes roch er ein Kisterl für die Geschäfte. Ganz vorsichtig erkundete er die neue Umgebung, denn es war alles so fremd für ihn. Er konnte auch eine unbekannte Katze wittern. Der gewohnte Zweibeiner war mit dem fremden Zweibeiner in einem anderen Raum. Die vertraute Stimme gab Mohrle Sicherheit. Es gab einige Türen, die alle offen standen. Mohrle hatte viel zu entdecken und nahm es kaum wahr, dass der gewohnte Zweibeiner irgendwann ging.
Der fremde Zweibeiner war ganz freundlich zu ihm, bot ihm lecker Futter an und redete mit ihm. Mohrle war aber nicht nach fressen zumute, es war alles viel zu aufregend und interessant. Später lernte er einen zweiten fremden Zweibeiner kennen, der sein Leben jetzt auch mit Mohrle teilte. Er war, nachdem er alles erkundet hatte, glücklich. Zwei Menschen, die sich um ihn und die Mitkatze kümmerten, immer gutes Fresschen, Kratzmöglichkeiten, Kuschelplätze, einen kätzischen Kumpel – Katzenherz was willst du mehr?
Während er sprach, bekam er ganz leuchtende Augen. Aber wir wollten wissen, warum er dieses Leben aufgegeben hat und hierher zurück kehrte.
Da wurden seine Augen sehr dunkel und der Blick traurig.
Eines Tages wurde der eine Zweibeiner von fremden Menschen abgeholt und kam nicht wieder. Der andere Zweibeiner kehrte abends immer sehr viel später als gewohnt zurück und hatte kaum Zeit. Futter und Kisterl, das war wie gewohnt, aber Spiel- und Kuschelzeit gab es nicht mehr. Wir Katzen merkten, dass etwas nicht stimmt. Wir rauften viel und machten auch einige Dinge kaputt. Eines Tages kam der verbliebene Zweibeiner ungewöhnlich früh heim. Es war eine sehr düstere Stimmung und bei ihm liefen dauernd Tränen. Ich wollte ihm helfen, aber er stieß mich zur Seite. Da wurde ich sehr traurig und wollte nichts mehr essen. Ich wußte, dass der andere Zweibeiner nie wieder kommen würde. Damit ich noch einmal die Möglichkeit auf ein „besseres Leben“ bekommen kann, bin ich wieder hier.
Wir alle schwiegen beroffen. Wir wissen, dass wir irgendwann den Weg über die Regenbogenbrücke gehen müssen. Aber wir wußten nicht, dass auch die Zweibeiner diesen Weg gehen.
Mohrles Schilderungen eines „besseren Lebens“ nimmt uns aber etwas die Angst. Hier ist es schön für uns und wir fühlen uns wohl. Aber jetzt wissen wir, dass es noch schöner sein kann. Solange einer von uns „Alten“ einen Neuzugang begrüßten kann, wird Mohrles Geschichte weiter gegeben. Damit keiner von uns mehr Angst vor dem unbekannten „besseren Leben“ haben muß.